Onlinecampus Review

Das Bilderbuch als kinderliterarische Gattung im Unterricht

Ausgabe: #17 Juni 2014
Rubrik: Forschung
Institution: Pädagogische Hochschule Tirol

„Bücher sind wie Nahrung für die kindliche Seele. Wer als Kind mit Sprache gefüttert wird, entwickelt sich besser als die, die nur narrative Schmalkost bekamen. Ein Lob auf das Lesen und Erzählen.“ (Hochgatterer 2012, S. A1) Die Erziehung zum Lesen beginnt lange, bevor Kinder Buchstaben entziffern können. Eine entsprechende Vorlesekultur in der Familie gilt deshalb als einflussreichste Voraussetzung für eine erfolgreiche Lesekarriere. Alle Schulkinder können leider nicht auf solche Vorerfahrungen zurückgreifen. Es ist deshalb angebracht, dass den Schülern und Schülerinnen ebenfalls in der Schule vorgelesen wird. Seit einiger Zeit finden auch Bilderbücher verstärkt Berücksichtigung in der Schule. Zumal kann an vorschulische Erfahrungen angeknüpft werden, das Bilderbuch bildet sozusagen eine Brücke zwischen Kindergarten und Schule. Es ist auch besonders geeignet für eine  fächerübergreifende Bildung und stellt ein künstlerisches Medium dar, das bis zum vierten Schuljahr seine Berechtigung hat.


Frühkindliche Entwicklung von Literalität

Seit jeher haben die Schulen die Aufgabe, die Literalität aufzubauen und zu unterstützen. „Eine literale Gesellschaft erkennt man daran, dass sie ihr Wissen vor allem in Texte niederlegt und es aus Texten bezieht; sie baut ihre Institutionen – Bildung, Religion, Wissenschaft, Recht – auf Texttraditionen und Textkritik auf.“ (Feilke 2001, S. 34) Bestimmte sprachliche, emotionale und soziale Fähigkeiten sind notwendig, um Texte niederzuschreiben. Diese Kompetenz führt zu tradierten Formen von Niederschriften, die somit eigenständige sprachliche Gestaltungen hervorbringen. Eigene Erfahrungen mit dem Lesen bilden den Grundstock für den Erwerb der Literalität. Neben dem Sprechen und der Sprachaufmerksamkeit bahnt das eigene Schreiben, das Lesen und das Sprechen über schriftliche Texte den Literalitätserwerb an. Die Entwicklung der Literalität beginnt allerdings schon lange vor dem Schriftspracherwerb. Dies sind die Schriftpraxen der Erwachsenen und die gemeinsame Betrachtung von Bilderbüchern. „Kinder spielen das Lesen und Schreiben, bevor sie lesen und schreiben können.“ (Feilke 2001, S. 34) Dort, wo das häusliche Umfeld solche Lernerfahrungen nicht bereitstellt, muss zuerst die Kindergartenpädagogik und im Anschluss daran der Anfangsunterricht die entsprechenden Möglichkeiten bieten. Die jüngere Forschung zeigt, dass schwache Schreiber und Leser zu Beginn ihrer Schulzeit oft nicht durch eine gewisse Symptomatik auffallen. Ihre Erwerbsphasen benötigen ausreichend Entwicklungszeit. Diese zeitlichen Spielräume sind allerdings sehr eng. Das bedeutet, dass Kinder so früh wie möglich mit schriftspezifischen Handlungen konfrontiert werden müssen. (Vgl. Feilke 2001, S. 34ff)


Das Bilderbuch als Basis von Sprach- und Lesekompetenz

Aus der Lernforschung ist bekannt, dass Inhalte des Bewusstseins umso aktiver im Gedächtnis angelegt sind, je mehr Vorwissen vorhanden ist. Neues prägt sich umso besser ein, je mehr  dieses mit positiven Empfindungen verbunden ist. Zusammenhänge und Regeln werden so leichter erkannt und auch behalten. Neue Informationen werden, verbunden mit Bildern, schneller und leichter verarbeitet. Dies beginnt bereits im Babyalter, sobald Bilder wahrgenommen werden. Aus diesen werden Worte und später in Form von  Geschichten weiterentwickelt. Kompetenter Umgang mit Sprache hilft, Gedanken in Sätze zu formulieren, Fakten und Beobachtungen zu beschreiben. (Vgl. Bardola, Hauck, Jandrlic, Wengeler 2009, S. 9) Eine Forderung des didaktischen Handelns ist der Kompetenzbereich des Sprechens, Hörens und miteinander Redens. Kommunikation gelingt nur, wenn die Beteiligten aufeinander hören und einander zuhören können. Eine Voraussetzung dafür ist eine verständliche Artikulation und ein an der Standardsprache orientiertes Sprechen zu sehen. Die entsprechende positive Grundstimmung aller Beteiligten stellt eine der Grundvoraussetzungen für den erfolgreichen Kompetenzerwerb dar. Dieses Sprechhandeln wird nicht nur in fiktiven Situationen, sondern auch in realen, fächerübergreifenden Handlungsebenen durchgeführt. (Vgl. Koch, Punz, Römer 2010, S. 322)

Über das Vorlesen kommt das Kind der standard-sprachlichen Lautung zuhörend näher, es wird der Wortschatz gefestigt und erweitert. Satzmuster können durch mehrmaliges Vorlesen, das von den Kindern oftmals gefordert wird, vertraut gemacht werden. Arbeit am gesamten sprachlichen Niveau ist, besonders im Anfangsunterricht, wie eine Untersuchung ergeben hat, dringend notwendig. So meint Hollstein (2006) zum allgemeinen Sprachstand von Schulanfängern: „Fast ein Drittel der 76 Erstklässler war bezüglich ihres Wortschatzes in der Gruppe als unterdurchschnittlich einzustufen. Dies bedeutet, dass Übungen zur Wortschatzerweiterung, aber auch Übungen zum Sprachgedächtnis, zur Artikulation und zum Sprachverstehen erforderlich sind.“ (Hollstein, Sonnenmoser 2006, S. 106) Hilfreich kann hier das Vorlesen von Bilderbüchern, das Übernehmen von Rollen im darstellenden Spiel, das Auswendiglernen von Fingerspielen und Gedichten sein. Ungenau bekannte Begriffe und Erscheinungen werden anhand von Bildern klar definiert und dargestellt. Bilderbücher, die in Form von Reimen präsentiert werden, laden zum Nachsprechen ein. (Vgl. Hollstein, Sonnenmoser 2006, S. 105f)

Um das Verständnis der grapho- phonischen Beziehung vorzubereiten zeigt sich, dass auch die Artikulationsfähigkeit des Kindes zu schulen ist. Besonders hilfreich zeigen sich Bilderbücher, die eine Worterwartung hervorrufen. Das Kind ersetzt beim Vorlesen das Bild durch ein Wort, wie etwa Sigrid Heuck (1982) in ihrem Lesebilderbuch „Pony Bär und Apfelbaum“ die Worterwartung stimuliert. So werden hier unterschiedliche graphische Repräsentationen deutlich, wenn Bücher über Illustrationen und Text verfügen. (Vgl. Hollstein, Sonnenmoser 2006, S. 107f)

Parallel zur allgemeinen Sprachentwicklung erhalten die Zuhörer und Zuhörerinnen durch das Vorlesen eine Ahnung für das erzählende Gefühl von Handlungen und erleben diese Strukturen als Vorbild für eigene narrative (erzählende) Fähigkeiten. Wie umfangreich diese Fertigkeiten gefördert werden, hängt vom Aufbau des Buches, von der Darbietung und den weiterführenden Aktivitäten  des Erwachsenen ab. Ein Beispiel für die Förderung der narrativen Fähigkeiten wären Bilderbücher, deren Handlung nur durch Bildmaterial dargestellt wird. Diese textlosen Bücher zeichnen sich oftmals durch besondere Detailtreue aus. „Dadurch sind Kinder besser in der Lage, den sequentiellen Aufbau einer Geschichte über das bildliche Denken nachzuvollziehen und zu verinnerlichen.“ (Kain 2006, S. 18) Ein wesentlicher Faktor der Gestaltung ist  auch die Art der Präsentation und die Art der Intonation des Erwachsenen. Eine Möglichkeit der Darbietung wäre, die Bilder zunächst zu betrachten und zu beschreiben, hier entwickelt sich eine innere Vorstellung in den Köpfen des Kindes. (Vgl. Kain 2006, S. 17f) Es kann seine Erfahrungen mit der Umwelt in den eigenen Phantasien verbinden und ausleben. Phantasien anhand der Bilder in Geschichten zur Realität werden zu lassen, diese verbalisieren und mit Hilfe von Sprache gestaltend tätig sein.


Probleme bei der Beurteilung von Bilderbüchern

Jeder Rezensent von Bilderbüchern steht, bei der Beurteilung von Bilderbüchern, vor erheblichen Schwierigkeiten. Dieser muss stellvertretend für den noch jungen Betrachter sein Urteil abgeben, Stellung beziehen und sich für oder gegen den Text entscheiden. Außerdem verfügt die Fachliteratur nicht über  allgemeingültige Bewertungs- und Beurteilungsraster, anhand deren Plus- und Minuspunkte vergeben werden können. Vollkommene Objektivität ist unmöglich, weil die Stellungnahmen aus der Sicht des Verfassers gesehen werden und eine große Portion an Subjektivität beinhalten. (Vgl. Sahr, Born 2006, S. 12f)

Ein Pädagoge, eine Pädagogin steht hiermit vor der Aufgabe, sich einerseits auf das Urteil des Rezensenten zu verlassen, andererseits auch auf eigene Vorlieben bezüglich der literaturästhetischen Gestaltung zu hören. Er/sie ist auch verpflichtet, sich Wissen bezüglich des Entwicklungsstandes und der Interessen seiner Schüler und Schülerinnen zu beschaffen. Vorgelegte Literaturvorschläge können sich als  eine brauchbare Entscheidungshilfe erweisen, die aber trotzdem einen umfassenden Handlungsspielraum zulässt. Entscheidungen für, oder gegen ein Bilderbuch müssen immer aus den „Augen der Kinder“ gesehen werden.


Auswahl und Qualität von Bilderbüchern

Das Lesen darf nicht nur eine Angelegenheit des erarbeitenden Unterrichts sein, es muss auch als erfahrungsintensive Beschäftigung seine Berechtigung haben. So kann der Gefahr begegnet werden, dass es als ungeliebtes Pflichtpensum erscheint. Wenn im Klassenzimmer eine anregende Leseumgebung, ein positiver Bezug zum Lesen geschaffen wird, besteht die Möglichkeit, dass auch in der Freizeit gelesen wird.

Wird ein Bilderbuch beurteilt, ist zu bedenken, dass das Buch eine komplexe Einheit darstellt, in der das Bild und der Text in seiner Gesamtheit eine besondere Eigenheit und Qualität besitzen sollten. Kretschmer (2006) stellt folgende Fragen zur pädagogischen Qualität:

➢    „Ist das Thema für Kinder wichtig? Knüpft es an ihre Erfahrungen an? Erweitert es ihren Erfahrungshorizont?
➢    Hilft es ihnen, sich selbst und die Welt besser zu verstehen?
➢    Vermittelt es ein angemessenes Bild vom Zusammenleben der Menschen?
➢    Regt es soziale Fantasie an?“ (Kretschmer 2006, S. 41)

Der Buchhandel  präsentiert ein breit gefächertes Angebot an Bilderbüchern. Eine sachgerechte Auswahl gelingt nur, wenn der Erzieher, die Erzieherin sich klar über die Aufnahmebedingungen der Kinder ist. Sind doch die Voraussetzungen der Kinder sehr individuell, besteht trotzdem die Notwendigkeit, dem unterschiedlichen Anforderungsniveau gerecht zu werden. „In jedem Fall sollte dieses Niveau ein wenig über dem liegen, was die Kinder ohnehin bereits leisten können, damit sowohl der Anreiz zum Betrachten und Lesen als auch eine wirkliche Förderungsmöglichkeit gegeben sind.“ (Sahr, Born 2006, S. 91)

Um eine kindgerechte Präsentation durchführen zu können, ist eine ehrliche Reflexion des eigenen Zugangs zum Bilderbuch notwendig. Dieser ist geprägt von der eigenen Sozialisierung mit Bilderbüchern, sie offenbart eine Wertschätzung, die dem Bilderbuch entgegengebracht wird. Auch die „bildnerische Sozialisation“ (Kain 2006, S. 50), die eigenen Erfahrungen, die mit bildnerischer Kunst gemacht wurden, beeinflussen unsere Meinung, wie sehr das Buch für Kinder geeignet ist. „So halten Erwachsene, welche früh mit Kunst sozialisiert wurden, … künstlerische Bilder für sehr viel früher bei Kindern einsetzbar als Erwachsene, welche sich mit Kunst weniger beschäftigen.“ (Kain 2006, S. 50) Auch eine Vorstellung, was Kinder in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung brauchen, spielt bei der Auswahl eine wichtige Rolle. Einige Bücher zeigen geschlechtsspezifische Rollendefinitionen auf, die die Kinder anregen sollen, diese zu hinterfragen und eine bewusste Position anzunehmen. (Vgl. Kain 2006, S. 50f)

Zur Bildgestaltung ist zu sagen, dass Bilderbücher von heute in sehr unterschiedlichen Techniken und Stilen arrangiert sind. Es finden sich auch Kombinationen aus Zeichnung, Malerei, Collage, Druck oder Fotografie. Entscheidend für eine bejahende Beurteilung ist, dass das Kind fähig sein muss, das Gebotene positiv aufzunehmen und zu deuten. Der Pädagoge, die Pädagogin sollte bemüht sein, ein sehr hochwertiges Angebot anzubieten, als Gegensatz zu bekannten Inhalten, mit geringem Wert.

Der inhaltliche Aspekt wird bei Fragen der Textgestaltung zu definieren sein. Aussagen müssen sich an der kindlichen Erlebenswelt orientieren, werden vielleicht Ideale in religiöser, sozialer oder moralischer Hinsicht festgestellt? Ein Hauptkriterium ist bei der Verständlichkeit des Textes zu sehen. Einfache Satzmuster, die zugleich variationsreich gestaltet sind, verschaffen dem Buch Klarheit und fördern das Interesse. Für Kinder, mit wenig ausgebildetem Lesekönnen ist eine einfacher, klarer Druck und die Darstellung der Sätze im Flattersatz (Gliederung in Sinnschritten), hilfreich. Als sehr motivierend für Zuhörer und Zuhörerinnen zeigen sich auch Sprachspiele, Reime, und immer wiederkehrende Wort- und Satzgruppen, die zum Mitsprechen anregen.

Eine Einheit stellen das Bild und der Text dar, dabei können diese Komponenten eine Parallelität bilden. „Bild und Text können aber auch  - alternierend unterschiedliche ‚Erzählfunktionen‘ übernehmen.“ (Sahr, Born 2006, S. 93) So könnten  verschiedene Formen der Handlung in einem Bild untergebracht sein, dadurch wird eine bewegliche Qualität erreicht. Bild und Text nehmen somit in guten Bilderbüchern eigene Aufgaben wahr, das Bild stellt also nicht eine Illustration des Textes dar, sondern übernimmt eine eigene Funktion der Darstellung des Sachverhalts.

Quelle: Ruth SchiffkornDas Betrachten von Bilderbüchern darf nicht nur im Hinblick auf  Fördermöglichkeiten gesehen werden. „Vielmehr sind die verschiedensten Bedürfnisse und Interessen des Kindes und schulische Zielsetzungen im weitesten Sinn zu berücksichtigen.“ (Sahr 2006, S. 94) Bilderbücher können durch ihre Form – und Farbgebung den künstlerisch-sensorischen, den haptisch- motorischen Bereich durch individuelle  Oberflächengestaltungen und durch unterschiedliche „Bespielmöglichkeiten“ abdecken. Bilderbücher, die Sachinformationen anbieten, wecken Interessen, fördern sprachliche Fähigkeiten und die Kreativität. Außerdem sensibilisieren sie zur literarischen und bildnerischen Gestaltung. Nachbereitend zeigen die Bücher ein vielfältiges Angebot von weiterführenden Handlungsmöglichkeiten. Hierbei ist die Kreativität des Lehrers, der Lehrerin gefragt, die etwa eine „bespielbare Landschaft“, die zum Sprechen und Erzählen animiert, anbietet. Neben dieser Förderung im kognitiven Bereich werden auch Emotionen, die für Werte und Normen sensibel machen, wie etwa Empathie, Angst und Freude, angesprochen. Bilderbücher regen an zur Identifikation mit den einzelnen Figuren, sie lernen unterschiedliche Formen von Aktion kennen und werden zu positivem Verhalten aufgrund der Geschichte geführt. (Vgl. Sahr, Born 2006, S. 92)

Abzulehnen sind sogenannte „Warenhaus- Kaufhausbücher“ (Hollstein, Sonnenmoser 2006, S. 29), die sehr preiswert sind, klischeehafte Handlungen in einer heilen Welt, eine vermenschlichte Tierwelt, belanglose Geschichten und eine fröhliche Kinderwelt zum Inhalt haben. Auch die Ästhetik der Bilder, die etwa das Kindchen-Schema, den Verzicht auf Raum und Lagebeziehungen und flächigen Farbauftrag aufweisen, ist negativ zu beurteilen.


Wie können Bilderbücher im Klassenverband präsentiert werden?

Begegnung mit Literatur heißt auch, über das Vorgelesene oder das Gehörte zu sprechen, zu reflektieren. Kinder dürfen damit nicht alleingelassen werden, das Sprechen über die Inhalte führt zum Verstehen und hilft Begriffe zu verinnerlichen. Ein wichtiger Teil der Sozialisation zum Lesen findet bereits in den Familien und auch in den vorangegangenen Kindergartenjahren statt. „Lesefreude und Lesefrequenz der Kinder sind in hohem Maße davon abhängig, ob in den Familien das Lesen als Selbstverständlichkeit und als soziale Erfahrung in den Alltag eingebunden ist.“ (Brinkmann 2012, S. 24) Um diese unterschiedlichen  Kenntnisse auszugleichen, ist es die Aufgabe der Pädagogen und Pädagoginnen hier anzusetzen und den Erwerb von Sprachbewusstheit zu sichern. Diese entwickelt sich im Spiel mit Versen, Reimen, beim Erzählen von Geschichten und beim Betrachten von Bilderbüchern. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Vorlesen zu, da die Betrachter, auch wenn sie noch nicht selbst lesen können, der Schrift und ihren Zeichen begegnen. Durch diese individuelle Situation, diesen persönlichen Bezug kann eine ganz eigene Beziehung zur vorlesenden Person geschaffen werden. So erzählt Sartre „von der Verwirrung und Faszination, die er als Kind beim Vorlesen erlebt: Die Mutter verschwindet gleichsam hinter dem Erzählten, das Kind erkennt ihre Sprechweise nicht wieder. ‚Nach einem Augenblick hatte ich begriffen: Das Buch sprach. Sätze kamen daraus hervor, die mir Angst machten, wahre Tausendfüßler, ein Gewimmel von Silben und Buchstaben. … Manchmal verschwanden sie, ohne dass ich sie verstanden hatte, eine andermal hatte ich schon vorher verstanden, und die Sätze rollten nobel ihrem Ende entgegen‘.“ (Kretschmer 2006, S. 42)

Einigen Kindern wurde die Erfahrung verwehrt, dass in den Seiten Spannendes, Interessantes geschehen könnte, dass sich die Anstrengung lohnt, das Lesen zu erlernen. Während der Vorlesesituation entsteht zwischen den Teilnehmenden eine soziale Gemeinschaft für einige Zeit, die verbunden ist, durch den Wissensdurst, das zwischenmenschliche Vertrauen und einem Wechselspiel von Gespräch und Hören. (Vgl. Sahr, Born 2006, S. 39f)

Um eine positive Grundlage zu schaffen, ist es notwendig eine ansprechende Atmosphäre zu anzubieten. Immer wiederkehrende Rituale helfen den Kindern Orientierung im Schulalltag zu finden. Sie stimmen auf das Thema ein und runden es zu Ende auch wieder ab. Riten haben ihren zeitlich und auch räumlich festen Platz innerhalb einer Gruppe von Menschen, die durch immer wieder gleiche Formulierungen, Abläufe und Gebärden geprägt sind. Einige Zeit standen Rituale im Zentrum der Kritik innerhalb der pädagogischen Didaktik, da sie eine Gruppe von Menschen einengen würden und der Entwicklung der Persönlichkeit nicht förderlich wären. „Diese Rituale einer ‚schwarzen Pädagogik‘ gibt es, und es ist gut, dass die 68er-Bewegung für diese Problematik sensibilisiert hat.“  (Schubert, Friedrichs 2012, S. 129) Doch die Erfahrung zeigt, wie ich auch aus eigener Praxis bestätigen kann, geben Rituale den Kindern Gelegenheit, sich innerhalb eines festgelegten, sicheren Rahmens zu entfalten und die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.

Ein wichtiger Aspekt, neben den Ritualen sind unterschiedliche Herangehensweisen, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewährleisten. Da ein Lehrer eine Lehrerin im Allgemeinen mit größeren Gruppen arbeitet, ist es hilfreich, auf eine Anordnung der Kinder im leichten Halbkreis zu achten, die Kinder sitzen dabei am Boden auf ihren Sitzkissen. Der Lehrer, die Lehrerin sitzt auf einem kleineren Stuhl und präsentiert das Buch. Ideal wäre auch, die Kinder in Reihen hintereinander anzuordnen, so ist ein guter Blick auf die Bilder gewährleistet.

 „Ein zentraler Aspekt ist hierbei bereits die eigene emotionale Beteiligung und Involviertheit bei der Präsentation.“ (Kain 2006, S. 55) Dies bedeutet, bin ich als Person persönlich von den Bildern und auch den Inhalten begeistert, dann kann ich meinen Enthusiasmus auf die Kinder übertragen. Kann der Lehrer, die Lehrerin durch seine/ihre Stimmführung, seine/ihre Gestik und Mimik die Zuhörer und Zuhörerinnen begeistern, entsteht der Wunsch, dieses Bilderbuch mehrmals zu hören und zu sehen. Diesem Bedürfnis nach Wiederholung kann selbstverständlich nachgegangen werden. Kain (2006) stellt weitere Mittel zur Förderung der Aufmerksamkeit vor, einige werde ich an dieser Stelle nennen.

➢    „Mögliche Ablenkungsquellen minimieren bzw. ausschalten
➢    Abwechslungsreiche Vortragsweise mit auch theatralischen Elementen
➢    Weder zu langsames noch zu hastiges Vorlesen
➢    Wichtige Textstellen mit einer spezifischen Gestik einleiten
➢    Ein Signal für unbekannte Wörter besprechen bzw. abmachen
➢    Kinder bei der Betrachtung aktiv miteinbeziehen (wie z.B. Dinge zeigen lassen).“ (Kain 2006, S. 55)

Eine aktive Miteinbeziehung der Kinder bei der Präsentation scheint mir persönlich besonders wichtig, einerseits um die geistige Gegenwart zu gewährleisten, andererseits um eine Identifikation mit den Inhalten und den jeweiligen Handlungsträgern der Geschichte zu fördern. Eine Stelle des Textes kann wiederholt, Reime mehrmalig, wörtliche Reden wiedergegeben werden. Kinder lieben es besonders, immer gleiche, wiederkehrende Sätze zu sprechen, wenn der Erzähler, die Erzählerin eine kurze Pause vor der entsprechenden Textstelle macht und dabei erwartungsvoll die Kinder anblickt. (Vgl. Kain 2006 52ff) Ist den Kindern ein Bilderbuch bekannt, wurde es mehrmals erzählt, animiert dies das Buch selbst zu „lesen“. Kinder lesen gerne das Bekannte, jeder Satz, der erlesen wird macht stolz auf die eigene Leistung. Sennlaub (2006) ist der Ansicht, dass jedenfalls Zeit für Zwischenfragen sein soll und auf die Zuhörersituation Rücksicht genommen werden muss. Bemerkt der Lehrer, die Lehrerin Aufmerksamkeitsschwächen soll jedenfalls die Präsentation abgebrochen werden. Die Inhalte können am nächsten Tag wiederholt und die Geschichte weitererzählt werden. Auch das Überschlagen von längeren Textstellen ist angebracht, wenn sie als nicht geeignet erscheinen. (Vgl. Sennlaub 2004, S. 163)

Die Interaktion mit einer Handpuppe, besonders im Anfangsunterricht, kann besonders hilfreich für das Stellen von Fragen an das Publikum sein. Zudem gestaltet sich das Wechselspiel zwischen dem Erzähler, der Erzählerin und den Kindern abwechslungsreich, außerdem animiert dies zur Abgabe von Kommentaren und Stellungnahmen zum Geschehenen. Die Handpuppe kann ein Kasperl sein, der den Kindern bekannt ist, oder das „Klassenmaskottchen“, das üblicherweise in der jeweiligen Klasse seinen Einsatz zur Kommunikation mit den Schülern und Schülern findet. (Vgl. Kain 2006 S. 57)

Älteren Kindern kann auch der Autor, die Autorin präsentiert werden. Im Internet ist eine Fülle an Informationen zum Leben und Werk der jeweiligen Schriftsteller zu finden. Diese Erfahrungen können den Kindern helfen, im Rahmen des weiterführenden Lesens ihre eigenen Buchpräsentationen zu verwirklichen. Begeistert sind Schüler und Schülerinnen, wenn sie Informationen über das Alter der Bücher erhalten und auch hören, dass der Lehrer, die Lehrerin das Buch bereits in seiner/ihrer Kindheit schon geschätzt und selbst sehr gerne gelesen hat. Hierbei wird den Kindern vermittelt, dass sozusagen hinter dem Buch eine Persönlichkeit mit einer eigenen Biografie steckt.

Abschließend zu diesem Kapitel möchte ich noch anmerken, dass Bilderbücher auch helfen können, bestimmte Ereignisse zu thematisieren und möglicherweise zu bewältigen. „So ist es möglich, Kindern mit Hilfe eines gut ausgesuchten Bilderbuches bei der Aufarbeitung von spezifischen  Problemen wie Tod eines Angehörigen oder Scheidung der Eltern zu helfen.“ (Kain 2006, S. 59)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Bilderbuch ein vielfältiges Angebot an Kommunikationsanlässen anbietet. Je nach Entwicklungsstand des Kindes ermöglicht es die unterschiedlichsten Lern- und Lehrimpulse, bezüglich der Bilder aus ästhetischer Sicht als auch mit einem Blick auf den Text, der zum Philosophieren über die individuellen Inhalte anregt. Bilderbücher sind geduldig, sie lassen sich immer wieder betrachten, bieten mannigfaltige Möglichkeiten der Vertiefung an und zeichnen sich, im Gegensatz zu Filmen, PC – Spielen und Fernsehen durch unbegrenzte Verweildauer aus.

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Mag. Ruth Schiffkorn
Institut für Elementar- und Primarpädagogik
Pädagogische Hochschule Tirol
Visitenkarte in PH-Online

 

Literatur:
Bardola, Nicola, Hauck, Stefan, Jandrlic, Mladen, Wengeler, Susanna (2009): Mit Bilderbüchern wächst man besser, Thienemann.
Brinkmann, Erika (2012): Vorlesen und PISA. In: Sammelband Grundschule Deutsch. Lesefreude wecken, S.24 – 25, Friedrich.
Feilke, Helmuth (2001): Was ist und wie entsteht Literalität? In: Pädagogik, Heft 6, S. 34 – 38, Juni.
Franz, Kurt, Lange, Günter Hrsg. (2005): Bilderbuch und Illustration in der Kinder- und Jugendliteratur, Schneider.
Heuck, Sigrid (1982): Pony, Bär und Apfelbaum. 10. Auflage, Thienemann.
Hochgatterer, Paulus (2012): Bücherfressen macht schlau. In: Der Standard, S. A1-A3, 10. November.
Hollstein, Gudrun, Sonnenmoser, Marion (2006): Werkstatt Bilderbuch, Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule, 2. Auflage, Schneider.
Kain, Winfried (2006): Die positive Kraft der Bilderbücher, Beltz.
Koch, Claudia, Punz, Elisabeth, Römer, Elke (2006): Bausteine eines kompetenzorientierten Deutschunterrichts. In: Erziehung und Unterricht, 160. Jahrgang, öbv 3-4.
Kretschmer, Christine (2006): Bilderbücher auswählen. In: Deutsch differenziert, S. 41, Westermann 2.
Kretschmer, Christine (2009): Bilderbücher in der Grundschule, Westermann.
Lieber, Gabriele, Schnell, Stefan (2008): Vision Bilderbuch-Portal – Ein Beitrag zur Demokratisierung von Bildung. In: Lieber, Gabriele (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik, Schneider.
Sahr, Michael, Born, Monika (2006): Kinderbücher im Unterricht der Grundschule, Schneider.
Schubert, Nele, Friedrichs, Birte (2012): Das Klassenlehrer-Buch für die Grundschule, Beltz.
Sennlaub, Gerhard (2004): Spaß beim Lesenlernen oder Leseerziehung? Kohlhammer.