Mathematik unterrichten mit dem Flipped Classroom-Konzept

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Buch: Mathematik unterrichten mit dem Flipped Classroom-Konzept
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Datum: Dienstag, 16. Juli 2024, 19:57

1. Allgemeines zum Flipped Classroom-Konzept

In Zeiten des 20. Jahrhunderts, in denen neue technische Errungenschaften Einzug in die Klassenzimmer hielten, entstanden auch neue Unterrichtsmethoden bzw. -konzepte wie beispielsweise das Modell des "Flipped Classroom". Um allgemeine Informationen zu diesem Unterrichtskonzept geht es im ersten Kapitel.

    

1.1. Was versteht man unter dem Flipped Classroom-Konzept?

Beim Konzept des Flipped Classroom geht es, wie der Wortteil „to flip“ - auf Deutsch „umdrehen“ - schon besagt, grundlegend darum, den Theorieinput, der normalerweise in der Schule stattfindet, mit der Hausübungsphase zu vertauschen. Das heißt, dass Schüler und Schülerinnen die „Hausübung“ in der Schule erledigen und die Theorie zu Hause vermittelt bekommen.

Dies geschieht meist mittels kurzer Videosequenzen, die entweder von den Lehrenden selbst erstellt werden oder sich aus schon vorgefertigten Videos zusammensetzen.

Flipped Classroom


Aufgrund der Auseinandersetzung mit Theorieinhalten in einer Online-Phase fällt das Flipped Classroom-Konzept unter den Begriff des E-Learning, genauer noch unter Blended Learning.


1.2. Zielsetzung

Im Vordergrund des Flipped Classroom-Modells steht die Unterrichtsstunde selbst und nicht, wie oft angenommen, die Videos. Die aktive Auseinandersetzung mit diesen ist zwar Voraussetzung dafür, dass die Lernenden überhaupt am Unterricht teilnehmen können, jedoch dient dieses Konzept dazu, die Unterrichtszeit für die aktive Auseinandersetzung der Lernenden mit den Inhalten zu nützen.

Jonathan Bergman und Aaron Sams halten die Lernendenzentriertheit für den Kern dieses Modells und formulieren hierzu: „redirecting attention away from the teacher and putting attention on the learner and the learning.“ (Bergmann, Sams 2012, S.11)


Folgende Ziele sollen beim Unterrichten nach diesem Konzept nach J. Wesley Baker (2000, S.9) verfolgt werden:

  • Lehrerendenvorträge werden reduziert, um mehr Zeit für die Öffnung des Unterrichts zu haben.
  • Der Fokus liegt auf dem Verstehen und nicht dem bloßen Wiedergeben der Inhalte.
  • Lernenden wird die Möglichkeit gegeben, ihren Lernprozess verantwortungsbewusst selbst zu steuern.
  • Lernende haben viele Möglichkeiten, in der Gruppe voneinander zu lernen.


2. Praxisbeispiel zu Flipped Classroom

Im Folgenden wird erläutert, wie mit dem Konzept des umgedrehten Unterrichts unterrichtet werden kann, indem ein Praxisbeispiel genauer beschrieben wird. Eine genaue Vorgehensweise, wie das Modell anzuwenden ist, gibt es jedoch nicht, da es sich hierbei nicht um ein starres Konzept handelt.

Es kann abgewandelt und auf die jeweilige Lernsituation angepasst werden. Diese Unterrichtsmethode ist eine Erweiterung des Repertoires einer Lehrkraft und muss nicht zwingend durchgehend angewendet werden.

Umgedrehter Mathematikunterricht an der BHAK Wien 11

Bei diesem Projekt wird das Flipped Classroom-Konzept auf den Mathematikunterricht einer Handelsakademie angewendet. Dabei werden 180 Jugendliche der 9. und 10. Schulstufe ein Schuljahr hindurch mit diesem Ansatz, der selbstverantwortliches Lernen fördern soll, unterrichtet. Die Lernenden schauen sich einmal pro Woche als Hausübung ein von der Lehrperson erstelltes interaktives Video an. In der Präsenzphase wird mittels aktivierender Methoden das in der Hausübungsphase erworbene Wissen angewendet, werden Fragen geklärt und wird Wissen vertieft.


2.1. Gestaltung der Präsenzphase

Unter Präsenzphase versteht man die Unterrichtsstunde in der Schule, während der die Lehrenden anwesend sind. In dieser Phase geht es sowohl um das Üben und Festigen des zuvor Gelernten als auch darum, Fragen zu beantworten und Missverständnisse aufzuklären.
Die Gestaltung der Präsenzphase kann so unterschiedlich sein wie die Lehrenden selbst. Durch Einsatz verschiedener Unterrichtsmethoden und Sozialformen kann diese Phase spannend gestaltet werden.

„The Inverted Classroom is not just videos!“ (Sams zitiert nach Handke, Sperl 2012, S. 78)

Dieses Zitat verdeutlicht gut, dass beim Flipped Classroom die Präsenzphase mindestens genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als die Selbstlernphase ist. Ziel der Unterrichtsmethode ist es, die Präsenzphase effektiv zu nützen und die Lehrpersonen vielmehr als Coaches anstatt allwissender Lehrender anzusehen. Damit wird in gewisser Weise auch die Rolle der Lehrperson umgedreht.

Beim Flipped Classroom steht durch die Auslagerung des Theorieinputs mehr Zeit für die Beantwortung von Fragen und für Übungen zur Verfügung als bei herkömmlichen Unterrichtsmethoden. Am Anfang einer Stunde, die nach dem Flipped Classroom-Modell abgehalten wird, ist es ratsam, die wichtigsten Begriffe des zu Hause erfolgten Theorieinputs kurz zu wiederholen, um die Erinnerungen der Schüler und Schülerinnen aufzurufen. Dies sollte nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

Es geht nicht darum, nochmals alles zu besprechen, da sonst einige den Sinn der Selbstlernphase zu Hause nicht verstünden und unvorbereitet in die Klasse kämen. Der Unterrichtseinstieg kann, wie schon erwähnt, auch mit einem Quiz erfolgen.

Wenn während der Übungsphase von der Lehrperson bemerkt wird, dass bestimmte Inhalte der Selbstlernphase von einem Großteil der Klasse nicht verstanden wurden, können mit kurzen Lehrvorträgen Missverständnisse behoben werden oder die Inhalte in einem Video gesondert noch behandelt werden.

Methodenvielfalt in der Präsenzphase

Hier werden beispielhaft ein paar Unterrichtsmethoden erläutert, die mit dem Konzept des Flipped Classroom kombiniert werden können. Natürlich können diese auch im konventionellen Unterricht, bei dem die Theorieinhalte nicht ausgelagert werden, angewandt werden.

Das aktive Plenum


Stationenbetrieb

Bei dieser Methode werden verschiedene Stationen im Klassenzimmer oder im ganzen Schulgebäude verteilt, dazu wird ein Laufzettel ausgeteilt. Bei den einzelnen Stationen liegen Angaben mit den Aufgabenstellungen auf, sodass die Schüler und Schülerinnen wissen, was zu tun ist. Man kann sie die Stationen in Gruppen oder alleine durchführen lassen.

Die Methode des Stationenbetriebs eignet sich sehr gut, um die Schüler und Schülerinnen in ihrem eigenen Tempo arbeiten zu lassen und kann im Zuge der Anwendung eines Flipped Classroom Mastery-Modells zu einer weiteren Öffnung des Unterrichts führen. Dabei können Pflicht- und Zusatzaufgaben sowie der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Stationen angegeben werden. Es ist ratsam, am Anfang der Stunde die zentralen Begriffe des aufgegebenen Videos im Plenum zu besprechen. Dafür können beispielsweise auch
Schüler und Schülerinnen aufgerufen und dazu aufgefordert werden, diese zu erklären. Es sollte aber darauf geachtet werden, dass dieser Teil der Stunde nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Während des Stationenbetriebs kann die Lehrperson auch versuchen, auf Verständnisprobleme einzugehen.

Ein Stationenbetrieb kann auch mit QR-Codes und Smartphones oder Tablets durchgeführt werden. Dabei werden die Codes mit Hilfe der Geräte eingescannt, und die Aufgabenstellung erscheint am Display. Eine Applikation, die dies anbietet, heißt Actionbound.

Divide and Fight

Bei diesem Spiel wird die Klasse in zwei Gruppen, oftmals in linke und rechte Seite der Sitzordnung, unterteilt. Anschließend werden entweder mittels eines Projektors nacheinander Aufgaben an die Wand projiziert oder mündlich gestellt. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin eine Antwort weiß, ruft er oder sie diese heraus. Bei einer richtigen Antwort erhält die dazugehörige Gruppe einen Punkt. Die Gruppe, die am Ende der Stunde am meisten Punkte hat, gewinnt. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die soziale Faulheit nicht unterbunden wird und nicht alle zum Mitdenken angeregt werden. (vgl. https://wiki.zum.de/wiki/PH_Heidelberg/Bausteine/Divide_and_Fight)

2.2. Die Selbstlernphase des Flipped Classroom-Konzepts

In der Selbstlernphase erfolgt die Auslagerung der Theorieinhalte, indem die Lernenden sich, beispielsweise mit Videos, Podcasts oder schriftlichem Material, zu Hause damit auseinandersetzen. Dabei treibt die Pädagogik die Technologie an und nicht umgekehrt, weil der Fokus bei Anwendung dieses Modells nicht auf einem technikkonzentrierten Unterricht liegen soll. Auch laut Jonathan Bergmann und Aaron Sams stehen beim umgedrehten Unterricht die Lernenden - nicht die Lehrenden - im Zentrum.

Beim erwähnten Praxisbeispiel schauen sich die Schülerinnen und Schüler einmal pro Woche ein von der Lehrperson erstelltes Video an, das zwischen 5 und 10 Minuten lang ist. Dabei geht es nicht nur darum, sich die Videos anzusehen, sondern sich aktiv mit dessen Theorieinhalten zu beschäftigen. Um diese aktive Auseinandersetzung zu gewährleisten, werden Quizfragen in das Video eingefügt. Die Lernenden erhalten sofort Rückmeldung, ob sie die Frage richtig oder falsch beantwortet haben. Die interaktiven Elemente werden mittels H5P hinzugefügt. Mit diesem kostenlosen Tool können auch bestehende YouTube-Videos interaktiv gestaltet werden.

Zusätzlich zum interaktiven Video müssen die Schülerinnen und Schüler eine Zusammenfassung abschreiben, die von der Lehrperson zur Verfügung gestellt wird.

Da es sich beim umgedrehten Unterricht um kein starres Konzept handelt, bei dem immer ein Erklärvideo am Anfang des Lernprozesses stehen muss, kann auch selbst entdeckendes Lernen im Unterricht ermöglicht werden. So kann ein Impulsvideo als Hausübung aufgegeben werden, um Grundwissen zu aktivieren. In der Präsenzphase sollen die Lernenden dann beispielsweise über selbst entdeckendes Lernen mit einem GeoGebra-Applet in der Unterrichtsstunde etwas herausfinden. Anschließend müssen sie sich als Hausübung in der Nachbereitung mit den Theorieinhalten dazu auseinandersetzen.

Die Videos werden von der Lehrperson auf eine Lernplattform hochgeladen. So kann kontrolliert werden, ob die Lernenden das Hausübungsvideo angeschaut haben. Falls die Schülerinnen und Schüler, während sie das Video anschauen, Fragen haben, können sie sie in ein Forum auf der Lernplattform posten. Die Lehrperson beantwortet sie in der nächsten Unterrichtsstunde.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Erklärvideos zu produzieren. Bei diesem Praxisbeispiel werden die Videos mit Office Mix, einem kostenlosen Zusatztool für die neueste PowerPoint Version, und einem Tablet mit Stifteingabefunktion produziert. Es handelt sich dabei um sogenannte Screencasts, d. h. es wird nur der Bildschirm des Computers abgefilmt, die Lehrperson ist nicht zwingend zu sehen. Zusätzlich können auch verbale Erklärungen aufgenommen werden, während die Lehrperson beispielsweise auf dem Tablet mit dem Stift rechnet oder gerade zeigt, wie eine Aufgabe mit Hilfe von Technologieeinsatz gelöst wird.

Quellen:

Schallert, S. (2015). Das umgedrehte Klassenzimmer: Traum oder Wirklichkeit? Mathematik unterrichten mit dem Flipped Classroom-Konzept.

Baker, W. J. (2000). The ‘Classroom Flip’: Using Web Course Management Tolls to Become
the Guide by the Side. In: Chambers, J.A. (Ed.), Selected Papers from the 11th International
Conference on College Teaching and Learning. Jacksonville, Florida: Florida Community
College at Jacksonville: 9-17.

Bergmann, J., Sams, A. (2012). Flip your classroom: Reach every student in every class
every day. Washington, DC: ISTE.

Handke, J., Sperl, A. (Hrsg.) (2012). Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten
deutschen ICM-Konferenz. München: Oldenbourg Verlag.

Handke, J., Kiesler, N., Wiemayer, L. (Hrsg.) (2013). The Inverted Classroom Model: The
2nd German ICM-Conference-Proceedings. München: Oldenbourg Verlag

Sams, A. (2012). Der „Flipped“ Classroom. In: Handke, J./Sperl, A. (Hrsg.). 2012. Das
Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz. München:
Oldenbourg Verlag. 13-23.

Spannagel, C. (2012). Selbstverantwortliches Lernen in der umgedrehten
Mathematikvorlesung. In: Handke, J./Sperl, A. (Hrsg.). 2012. Das Inverted Classroom Model:
Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz. München: Oldenbourg Verlag. 73-81.

https://wiki.zum.de/wiki/PH_Heidelberg/Bausteine