Onlinecampus Review

Schule verändern. Offenheit als Herausforderung in der Governance von Bildungsinnovationen

Ausgabe:
Rubrik: Publikationen
Institution:


Autorin: Ullmann, Marianne

Erschienen am 13. Oktober2012.
ISBN: 978-3531197340


In ihrer 2011 publizierten Dissertation stellt Marianne Ullmann die scheinbar naiv formulierte, aber bei genauerem Hinsehen gehaltvolle und nicht ganz einfache Frage: “Wie kommt das Neue in die Schule?”

Zum Teil beantwortet sie diese Frage bereits im Untertitel selbst: “Offenheit” braucht es, auch wenn sich diese “als Herausforderung in der Governance von Bildungsinnovationen” herausstellt. Diese Offenheit  ist in mehrerer Hinsicht gefragt. Sie begegnet uns in verschiedenen Zusammenhängen und Ausformungen, sei es als Offenheit der Initiator/innen und Ausführenden gegenüber dem “Outcome” bei geplanten Innovationen, sei es in Form eines aktiven, empathischen Zuhörens durch Koordinator/innen, Vorgesetzte oder Evaluierende, sei es in der Bereitschaft der Forschenden, Innovationsprozesse im doppelten Sinne aus der Ameisen- und ANT (Akteur-Netzwerke-Theorie von Bruno Latour) -Perspektive zu betrachten.

Letzteres bedeutet vor allem, sich der Komplexität von Situationen nicht zugunsten plakativer Vereinfachungen zu verschließen. Im ersten Teil des nicht ganz zweihundertseitigen Buches positioniert Ullmann ihre Forschung im gegenwärtigen Diskurs um Lebenslanges Lernen und die (globalen) Inszenierungen von Innovation und Konkurrenz. Ihr Methodenkoffer bedient sich Ideen der (Good) Educational Governance und der Akteur-Netzwerke-Perspektive Bruno Latours, die zum Teil etwas abstrakt und  im Verhältnis recht ausführlich dargestellt wird, im weiteren, empirischen Teil des Buches aber anhand von Beispielen immer wieder durchaus greifbar und in ihren Vorzügen verständlich wird. Die Ausgangsposition ist klar: Veränderung und Offenheit für Innovationen in der Schule  wird von allen Seiten gewünscht -  jedoch in unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Form von unterschiedlichsten Gruppen.

Ullmann will nach eigener Aussage nicht begleiten, belehren oder evaluieren, auch wenn sich bestimmt immer wieder Anregendes in den Erfahrungsberichten der Interviewten findet. Es geht ihr darum, eine neue Betrachtungsweise zu eröffnen, indem die Komplexität dieses Prozesses anhand von Erfahrungen im Rahmen des Schulinnovationsprojektes “eLSA“  (e-Learning im Schulalltag) bestmöglich abgebildet werden soll. Eine Analyse von mit der Projektleitung, KoordinatorInnen, Schulleiter/innen und Lehrenden geführten ExpertInneninterviews und Schulbesuchen (z.B. im Rahmen von Zertifikationsveranstaltungen) dient hierbei als Grundlage.

Anonymität wird durch ihre Technik gewährleistet, Namen und Orte zu verfremden und die verschiedenen Erzählungen zu thematischen “Vignetten” zu verschmelzen. Diese wirken als besondere Stärke der Arbeit und ergeben durch den weitgefassten Fokus der  ANT-Perspektive betrachtet unverknappte, Lehrenden teils verblüffend vertraute, teils schmerzlich bekannte Szenarien, die  zum Schmunzeln anregen oder  Schauer über den Rücken jagen, so zum Beispiel bei der genauen Beobachtung einer e-Learning-Unterrichtseinheit, “e-Learning im Biologie-Unterricht” (S. 96). Stichwort: Murphy’s law.
Im ANT-Denken werden Menschen mit unterschiedlichen Zielvorstellungen, Stundenpläne, Raumeinteilungen, “unwillige” Computer und Pausenglocken zu gleichwertigen Akteur/innen bzw. Aktanten, was besonders eindrücklich anhand der oben erwähnten Vignette verdeutlicht wird. In teils sehr abgehackten, „unfrisierten“ Interviewfetzen kommt so manche Problematik klarer zum Vorschein, als es weit ausholende Abhandlungen manchmal schaffen. Marianne Ullmann destilliert aus ihren Interviews drei wichtige, sich wechselseitig beeinflussende Grundkategorien für die erfolgreiche Adaption von Innovationen in der Schule auf allen Ebenen: “Flexibel handeln”, “Transparenz schaffen” und schließlich “Vertrauen”.  e-Learning erhöht die Komplexität der Unterrichtssituation nicht nur durch “kapriziöse” Technik, es erfordert eine erhöhte Flexibilität der Lehrenden wie auch ein neues Rollenverständnis. Lernplattformen und die zeitlich-räumliche Auflösung der klassischen Unterrichtssituation erhöhen die Einsichtnahme von außen genauso wie die Überwachungsmöglichkeiten gegenüber den SchülerInnen. Vertrauen auf die grundsätzliche Bereitschaft und die verschiedenen Kompetenzen aller ist von allen Involvierten gefragt, wenn das Endprodukt nicht vor allem Demotivation sein soll.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das direkte Umsetzen von Direktiven (z.B. von Seiten des Ministeriums oder der Direktion) ist als Ausnahme von der Regel zu begreifen und dies wiederum nicht unbedingt als negativ! Ullmann schärft den Blick für den Mehrwert, der sich aus der Veränderung der Direktive bzw. der Ausgangsvorstellungen in der Weitergabe und Umsetzung durch verschiedenartige AkteurInnen/Aktanten (Latour nennt diesen Vorgang “Übersetzung”) oft ergeben kann. Solches kann mit herkömmlichen Betrachtungsweisen und ergebniszentrierten, Zeitdruck aufbauenden Herangehensweisen weder wahrgenommen werden, noch sich wirklich entwickeln, da vieles früh als Störung verworfen würde. Überhaupt sei die “Schuld” an der zum Teil unbefriedigenden Situation der Schulentwicklung und -erneuerung nicht, wie gerne des Öfteren praktiziert, bei einer unmotivierten, hoffnungslos veralteten LehrerInnenschaft zu suchen. Auch diese Gruppe ist sehr heterogen und nach Latour tragen zudem nicht nur die großen “InnovatorInnen” zum Prozess bei, sondern auch die zurückhaltenden, kritischen Stimmen.

Immer braucht es vor allem Geduld, zwischenmenschliche Betreuung und vielfältige, konstante Unterstützung. Misstrauen und Ressourcenknappheit führen zu gegenteiligen Effekten. Wenn “Innovation” nicht zum Slogan oder Selbstzweck verkommen soll, muss man sich klar machen: Implementierungen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln, zu festigen und akzeptiert zu werden, und alle Handelnden müssen Neues nach eigenen Bedürfnissen und Kompetenzen modifizieren können, um Frustration auf allen Seiten zu vermeiden.

Schließlich diagnostiziert Ullmann treffend, “dass das, was in der Beziehung zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen längst eingefordert wird und zum Teil auch schon Umsetzung findet,”- nämlich z.B. ein verändertes Rollenverständnis, Individualisierung und flexibler Umgang mit Bedürfnissen - “ in der Beziehung zwischen Projektplanenden und Durchführenden nicht im selben Maß eingelöst wird.” (S. 181) Vom Umgang der öffentlichen Meinung mit den Agierenden ganz zu schweigen.
 
rezensiert von Marie Lene Kieberl