Onlinecampus Review

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Ausgabe: #1 November 2012
Rubrik: Publikationen
Institution: Onlinecampus Virtuelle PH

Autor: Harald Welzer
Erscheinungsdatum: 1. März 2013
Verlag: Fischer
Hardcover (auch als e-Book erhältlich)
ISBN: 978-3-10-089435-9

„Es findet sich kein plausibles Argument dafür, nichts zu tun. Das Fehlen eines Masterplans gibt Ihnen sogar die Freiheit, Fehler zu machen und Misserfolge zu haben.“ – Mit diesen Worten nimmt der Soziologe Harald Welzer in seinem aktuellen Buch Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand uns alle in die Pflicht, aktiv an der Neugestaltung unserer Welt zu arbeiten. Zentrale Voraussetzung dafür ist das bereits im Titel postulierte selbstständige Denken. Es geht Welzer darum, unseren seit Jahrzehnten praktizierten Tunnelblick zu therapieren, der sich in einem Schlagwort zusammenfassen lässt: Kapitalismus, dem sich unser Leben in allen Aspekten unterordnet. Der Kapitalismus bestimmt nämlich nicht nur unsere Wirtschaft und unsere Konsumgewohnheiten, sondern auch unsere Kultur, unser Lernen, unser Wissen.

„Selbstaufklärung“, so Welzer in einer Weiterführung der Kant’schen Lehre „muss sich gegen die allgegenwärtigen konsumistischen Verführungen durchsetzen, indem sie darauf beharrt, dass es nicht schon automatisch Sinn macht, alles haben zu wollen, nur weil man alles haben kann.“ Wir akzeptieren inzwischen kritiklos die Zerstörung unserer Erde, obwohl wir wissen, dass unser von der Industrie permanent aufs Neue vorangetriebene Konsum den Raubbau an Natur und Tierwelt immer weiter fortsetzt. „Dissonanzreduktion“ nennt Welzer dieses Phänomen und bezieht sich dabei auf die Arbeit von Leon Festinger, der entdeckte, dass Menschen dazu neigen, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung anzupassen, wenn sie eine Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Realität erleben, die sich praktisch nicht beseitigen lässt.

Harald Welzer, geboren 1958, ist Gründer und Vorsitzender der Stiftung Futurzwei, der Stiftung Zukunftsfähigkeit. Als Wissenschafter ist er besonders für seine sozialpsychologischen Untersuchungen zu Mittäterschaft und Widerstand im Nationalsozialismus und für diverse Studien zu möglichen Folgen des Klimawandels bekannt. Welzers Hintergrund macht ihn zur Schnittstelle zwischen einer historischen und naturwissenschaftlichen Perspektive, den Blick in die Vergangenheit und in die (mögliche) Zukunft zugleich gerichtet. Genau diese Kombination ist notwendig, um nachhaltige Modelle zu entwickeln und überzeugend zu argumentieren. Welzer kehrt immer wieder zu seiner Analyse zurück, dass wir noch viel zu tief in den Zukunftswünschen der Nachkriegszeit stecken, die allesamt auf Wachstum ausgerichtet waren. Dazu gesellt sich die Erwartung, alles sei jederzeit in ausreichender Menge verfügbar; nach den wirtschaftlichen Einschränkungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts durchaus erklärbar, aber heutzutage Motor für eine immerfortwährende Beschleunigung des Lebens und Belastung für uns und unsere Welt.

Expansion, eine wichtige Beobachtung Welzers, erfolgt heutzutage nicht mehr räumlich, sondern zeitlich. Verschwendung, die heute betrieben wird, führt zu Mangel in späteren Jahren. Konsument/innen, die alles erwarten und am liebsten sofort, verbrauchen „die Zukunft derjenigen, die das Pech hatten, später geboren zu sein“ als sie. Im Gegensatz zur bereits bekannten Erkenntnis, dass Billigkleider und Pauschalreisen auf Kosten derer gehen, die in den Herkunftsländern dieser Produkte arbeiten, müssen sich die heutigen Kapitalist/innen vergegenwärtigen, dass sie nicht länger nur irgendjemanden in der Welt draußen mit ihrem Verhalten betrügen, sondern zugleich ihre eigenen Kinder, Enkel und weiteren Nachkommen.
Der Konsumwahn macht auch vor Kunst, Kultur und dem Lernen nicht halt. Konsument/innen verschlingen die Aufnahme eines klassischen Konzerts wie Fast Food. Dies verschafft nicht einmal momentane Befriedigung, sondern bedingt vielmehr eine innere Ruhelosigkeit, ein Gefühl, nie alles gelesen, gehört oder gesehen zu haben – also an ein Ende zu kommen. In Zeiten von Pauschalabonnements und Flat Rate Downloadangeboten zitiert Welzer Hartmut Rosa: „(...) lohnen sich wirklich viele Stunden der Zeitinvestition für ein Produkt, das weniger als einen Euro gekostet hat, wenn gleichzeitig Myriaden anderer Optionen realisierbar wären?“ Wenn man alles haben kann, gibt es keine Wünsche mehr – und es gibt auch keine Geschichten, die man erzählen könnte, wenn man alles bereits erlebt hat. Klassische Geschichten handeln von Menschen, die aufbrechen, Neues zu entdecken und dabei auf unerwartete Begegnungen in Zeit und Raum stoßen – nichts davon bieten kalkulierbare Wochenendaufenthalte in Wellnesstempeln oder vermeintliche Ausnahmeerfahrungen wie Achterbahnen oder Bungee Jumping.

Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand ist eine gelungene Mischung aus Pamphlet, Essay und soziologischem Fachbuch. Welzer provoziert, beschimpft seine Leser/innen mitunter, versteht es aber immerzu, sie mit Alltagsbeispielen zur Reflexion anzuregen. Der erwartete erhobene Zeigefinger wird dabei nicht ausgestreckt; Welzer erwartet nicht, dass Aufrufe, Belehrungen oder Ermahnungen zum gewünschten Ziel führen. Vielmehr hilft er den Leser/innen mit Argumenten und leicht nachvollziehbaren Beispielen, eigene Schlüsse zu ziehen. Welzers Buch rüttelt auf und macht nachdenklich. Als lebendiges Gegenbeispiel für den im Buch kritisierten oberflächlichen Umgang mit Inhalten und Gedanken dient es nicht dem schnellen Lese-Konsum, sondern beschäftigt die Leser/innen auch noch lange Zeit danach.