Onlinecampus Review

Dialektik der Bildungsabschlusserhöhung. Oder: Wird es unseren Kindern einmal besser gehen?

Ausgabe: #27 August 2016
Rubrik: Publikationen
Institution:

Buchbesprechung: Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp, Berlin 2016

Hand aufs Herz: Glauben Sie eigentlich noch, dass es Ihren, dass es unseren Kindern einmal besser gehen wird als uns? Nein, nicht so wirklich? Vielleicht befürchten Sie sogar Gegenteiliges? Willkommen im Club!
Und geht es Ihnen vielleicht auch so, dass Sie feststellen, dass – bei genauerer Überlegung – es gar nicht so leicht zu sagen ist, was genau die Ursache für dieses Gefühl ist, oder was konkret man denn nun tun könnte, um „bestimmten“ Entwicklungen gegenzusteuern? Drei Beispiele, die Ihnen vielleicht bekannt vorkommen: Ohne Zweifel ist die allgemeine Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen nicht verwerflich. Die führt allerdings dazu, dass am Arbeitsmarkt neue Konkurrenzsituationen und neue, oft prekäre, Unsicherheiten entstehen und viele der Generation der 25- bis 30jährigen den sozialen Abstieg (zumindest temporär) nur mit Unterstützung ihrer Eltern vermeiden können. Oder: Der Wohlstandsgewinn der letzten Jahrzehnte führt dazu, dass Personen, die ein wenig Geld übrig haben, dieses nun in Finanzprodukte investieren (fürs Sparbuch gibt’s ja kaum mehr Zinsen), die – über mehr oder weniger viele Ecken – am Fundament der eigenen Jobsicherheit und des übrig bleibenden Finanzpolsters nagen. Oder: Die letzten 100 Jahre haben gewaltige Verbesserungen für Frauen gebracht. Gleichzeitig ist die Schere zwischen Frauen (also auf der einen Seite die akademisch gebildete Topmanagerin oder Universitätsprofessorin, auf der anderen die in der Reinigungsfirma prekär beschäftigte Migrantin) weiter aufgegangen.
Oliver Nachtwey ist es in seinem – auch für Nicht-Soziologen und Nicht-Ökonomen – gut lesbaren Werk gelungen, für Menschen, die sich nicht mit einfachen (und schon gar nicht populistischen) Antworten begnügen möchten, eine konsistente, wirklich spannend zu lesende (und akribisch recherchierte) Analyse der Gesellschaftsentwicklung der letzten 250 Jahre zu schreiben. Beeindruckend ist die Fähigkeit des Autors, die Komplexität von Zeitphänomenen, Entwicklungen, Unbehaglichem und Missständen zu fassen, ohne dabei in die Falle zu tappen, gleichsam paradoxe Entwicklungen einfach auflösen und wegerklären zu wollen.
Nachtwey liefert hier sicherlich nicht den einzig möglichen Blick auf den Stand der gegenwärtigen Gesellschaft. Aber sein Buch erreicht zweifellos das Ziel, „… ein wenig zur Erhellung der aktuellen Situation bei(zu)tragen und Überlegungen darüber an(zu)stoßen, wie auf den Prozess der regressiven Modernisierung eine solidarische Moderne folgen könnte.“

PS: Die Arbeitsverhältnisse im Bildungswesen sind im Vergleich zu anderen „Branchen“ noch relativ „gut“. Hier noch zwei Gründe, warum gerade Pädagoginnen und Pädagogen diesen Text lesen sollten: Erstens sensibilisiert er gegenüber Entwicklungen, die auch für die pädagogische Profession nicht wünschenswert wären oder sind. Und zweitens klärt es den Blick auf die Realitäten, die den Schülerinnen und Schülern nach ihrer Schulzeit bevorstehen (könnten). Und beides ist allemal gut zu (er)kennen.

Text: Thomas Nárosy | Cover: Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Edition Suhrkamp